Wer ohne Sünde ist…

Meine ersten Erfahrungen mit der katholischen Kirche machte ich in der ersten Klasse –Pfarrer, Beichtstuhl, Schuld und Sühne und alle sieben Todsünden inklusive. In der Sowjetunion, wo ich bis zu meinem siebten Lebensjahr gelebt hatte, war Religion Opium fürs Volk. Generationen von Russen wurden atheistisch erzogen. Es gehörte zwar zur höheren Bildung, die Bibel gelesen zu haben, aber im literarischen Sinne, nicht als Glaubensgrundlage.
So staunten meine Eltern nicht schlecht, als ihrer kleinen Tochter der katholische Religionsunterricht in Deutschland nicht nur großen Spaß machte, das Kind hatte sogar eine konkrete Vorstellung von Gott und kniete sich bei jedem Kirchenbesuch –ob in Rom oder Jerusalem- hin, um sich zu bekreuzigen.

 

Und dann kam der nächste Schritt: Unsere Klasse sollte zur Beichte gehen.
Jedes Kind verbindet mit dem Anfangsbuchstaben seines Nachnamens irgendwelche unangenehmen Erfahrungen. Bei mir war es die Schlusslichtfunktion des W im lateinischen Alphabet. Sei es eine Spritze beim Schularzt, die Abnahme irgendeiner unangenehmen Sportdisziplin oder die Zeugnisausgabe –immer war ich als letzte dran, immer musste ich am längsten warten, hoffen und bangen. So eben auch bei der Beichte.
Schon auf dem Weg zur Kirche bekam ich panische Angst. Später erfuhr ich von meiner Schulfreundin Leni, dass man Sachen beichten kann wie „ich habe einen Keks aus der Küche geklaut“ oder „ich habe das Fahrrad meiner Schwester kaputt gemacht“. Das alles hätte ich problemlos erfinden können, aber ich konnte einfach nicht glauben, dass es sich bei so einer seriösen, groß angekündigten Beichte um solch lächerliche Lapalien handeln könnte.
Unsere Religionslehrerin hatte uns nämlich vorher ganz ausdrücklich gebeten, uns über unsere Sünden ernsthafte Gedanken zu machen. Und besonders ich, die ich noch nie gebeichtet hatte.. Da dachte ich schon, es sollte sich um ein richtig schweres Vergehen handeln.

An besagtem Tag standen wir paarweise in der Kirche. Die ersten Kinder kamen dran. Alle gingen ganz selbstbewusst rein, als ob sie tausend Sünden begangen hätten, blieben eine Ewigkeit drinnen und kamen dann, wie mir schien, ganz erleichtert wieder raus. Als hätte der Pfarrer sie von jeglicher Schuld befreit.
Nur ich saß da und zerbrach mir den Kopf. Aber mir fiel einfach nichts ein. Welche Sünden könnte ich beichten?
In meinem Kopf ging ich alle zehn Gebote durch. Ich könnte erzählen, ich hätte jemanden umgebracht –aber was soll ich sagen, wenn man mich fragt wen? Und was habe ich mit der Leiche gemacht? Ich war ja nicht groß genug, um eine Leiche zu schleppen, geschweige denn, sie im Wald zu vergraben. Und dann würde er mir sicher lauter Fangfragen stellen und herausfinden, dass ich gar nicht gesündigt hatte – und das wäre peinlich.
Ehebruch kam im Alter von sieben Jahren auch nicht unbedingt in Frage.
Auch der Diebstahl von irgendeinem großen Gegenstand kam mir eher kompliziert darzustellen vor. Und dann die vielen Fragen! Ich hatte nicht mehr die Zeit, mir so viele Details auszudenken. Es musste eine ganz konkrete, in sich geschlossene Todsünde sein!
Dass ich meine Eltern nicht ehrte, könnte ich schon sagen, aber wie sollte ich das anders formulieren? Und weshalb sollte ich sie nicht ehren? Und wie äußert sich das überhaupt, wenn jemand seine Eltern nicht ehrt?
Und das Schwimmbad unserer Nachbarn zu begehren, kam mir auch doof und gar nicht so sündhaft vor, zumal ich auch immer darin baden durfte.
Es gab eigentlich nur ein Gebot, das ich glaubhaft umformulieren konnte.
Mittlerweile waren schon alle Kleins dran gewesen und alle Schmids und sogar die Ullrich. Und dann war ich an der Reihe. Etwas unbeholfen kletterte ich auf den hohen Beichtstuhl, und während ich das Gesicht unseres Dorfpfarrers durch das Gitter betrachtete, überlegte ich immer noch krampfhaft, ob mir nicht doch noch etwas Besseres einfallen würde. Doch schließlich gab ich mich damit zufrieden, dass mir überhaupt etwas eingefallen war.
Mein Gott, hoffentlich war das jetzt auch Sünde genug!

„Tochter, beichte mir deine Sünden“ oder so etwas in der Art sagte der Dorfpfarrer.
„Na gut,“ sagte ich, „ich fürchte, ich habe nur eine. Aber sie ist relativ groß. Also, ich glaube, meine einzige Sünde ist, dass ich nicht an Gott glaube.“
Der Pfarrer sagte kein Wort. Die Sekunden der Stille machten mir Angst. Am Ende hatte er vielleicht nicht gehört, dass ich gesagt hatte, ich hätte nur eine und wartete jetzt doch noch auf einen Mord. Nach einigen sehr langen Sekunden fing er sich wieder und sagte: „Na gut, ähm, dann bete doch fünf Mal das „Vater unser“ und denke darüber nach, dass Jesus alle Kinder liebt.“
Nachdem der Pfarrer meiner Religionslehrerin von meiner Beichte erzählt hatte, musste ich nie mehr zur Beichte gehen. Ich musste nicht einmal mehr mit in die Kirche gehen. Was ich wirklich schade fand. Denn eines konnte man damals wirklich noch nicht von mir behaupten: dass ich nicht an Gott glaubte.