Des Glückes Schmiede

Als Friedrich an diesem nebligen Montag Morgen im Oktober aus dem Haus ging, ahnte er noch nichts von den ungeheuerlichen, haarsträubenden Vorfällen, die sich bald in seinem Leben ereignen sollten. Ganz im Gegenteil, er dachte eigentlich, er hätte schon genug Sorgen. Nicht nur seine Frau war im Begriff, ihn zu verlassen, auch die Geliebte war schon fast abgesprungen. Beide Frauen wollten nur das eine: ein Ultimatum – sie oder ich. Aber Friedrich, seines Zeichens eine typische unentschlossene Waage, wollte das genaue Gegenteil: er wollte, dass beide blieben.

Aber eigentlich fängt unsere Geschichte schon viel früher an: In einem riesigen Bürogebäude, so weit weg von unserer Welt, wie es dauert zu Fuß von Alaska ostwärts nach Neuseeland zu gelangen, irgendwo zwischen den sieben Bergen und Alices Wunderland, aber definitiv nicht über den Wolken, wie die dummen Menschen, die es nicht besser wissen, es sich immer denken, klingelte das Telefon.
„Schutzengelbüro Friedrich“ meldete sich eine große, beleibte, glatzköpfige Gestalt mit tiefer Bassstimme. Danach war im Büro kurze Stille und später hörte man ihn wieder sagen:
„hmm“
„aha“
„ich verstehe,“ dann wieder Stille.
„Nein, es tut mir leid, aber da werde ich Ihnen nicht helfen können, nein, wirklich, auf gar keinen Fall“ er nahm einen Terminplaner zur Hand, befeuchtete seine wurstartigen Finger mit Spucke und fing an, hin und her zu blättern, „es wurde alles schon vor Monaten organisiert, alle Termine sind belegt, wir haben im Moment mehr Stress als für eine Langzeitplanung wie die Unsere möglich ist.“
Aus dem Hörer hörte man ein dünnes aber lautes quäkiges und schnelles Stimmchen auf ihn einquatschen, so dass der Dicke etwas angewidert den Hörer von seinem Ohr weghielt.
„Einen Gefallen schulde ich Ihnen“ bestätigte er schließlich, „na gut, mein Freund, danach sind wir aber quitt. Wir treffen uns in einer Stunde im Konferenzraum 735“ daraufhin knallte der Dicke den Hörer auf die Gabel.
Er ging kurz zum Fenster und blickte sehnsüchtig hinaus. Wie schön waren doch die Tage gewesen, bevor man ihm diese Arbeit übertragen hatte. Und jetzt saß er Tag für Tag in diesem Büro und schuftete, plante, organisierte, beaufsichtigte ohne auch nur einen freien Tag zu haben seit zwanzig Jahren, solange eben wie Friedrich lebte. Er ging zu dem großen Plan an der Wand, wo alle Pläne die ihm delegiert worden waren fein säuberlich festgehalten wurden, und sah nach, wie er es jede Stunde tat. Und tatsächlich, er hatte noch dreiundfünfzig Jahre, zwei Monate, drei Wochen und vierzehn Stunden zu arbeiten. Und alles nur, weil er vor langer Zeit einem Irrglauben verfallen war und versucht hatte, andere Menschen auf den gleichen Irrweg zu locken.
Na gut, Trübsinn blasen half ja nichts, er musste den neuen Termin halt irgendwie reinquetschen. Also setzte der Dicke sich zurück auf seinen alten hölzernen Bürostuhl, der sich unter seinem Gewicht wand, stöhnte und ächzte, und ging an die Arbeit zwischen seinen penibelst auf dem Tisch aufgereihten Aktenordnern und anderem Büromaterial.

Aber eigentlich ist auch das nicht der Anfang unserer Geschichte, denn dieses Telefonat war nur die Folge von Ereignissen, die Monate zuvor auf einem Kontinent namens Amerika und in dem dazugehörigen Schutzengelbüro vor sich gegangen waren.
In diesem Schutzengelbüro war alles wie immer. Luigi, ein winzigkleiner Zwerg mit Haaren, die er sich so hoch nach oben sprayte, wie sein Bart nach unten lang war, um größer zu wirken, in Bermudashorts, bunten Turnschuhen und einem weißen Unterhemd, unter dem man seine starke Körperbehaarung deutlich erkennen konnte, tat, was er jeden Tag bei der Arbeit tat: er gönnte sich eine Pause. Während sich riesige Berge von Papier auf seinem Schreibtisch türmten und das Fernrohr, das dazu bestimmt war, seinen Schützling im Auge zu behalten, verstaubt in der Ecke stand, lag Luigi mit geschlossenen Augen unter einer Solariumlampe, schlürfte einen Mai Tai und hörte romantische Lieder von Eros Ramazotti, während er die Melodien im Halbschlaf mitsummte. Das Telefon war auf leise geschaltet und der automatische Anrufbeantworter fing die Anrufe ab, um den Kurzen nicht bei seiner Pause zu stören. Nur eine Person hatte einen anderen Klingelton als alle anderen Anrufer, und hörte er diesen, so stürmte er sofort zum Telefon und schrie:
„Ciao, Mamma!“
„Natürlich ziehe ich mich warm an, Mamma! Nein, ich arbeite nicht zu viel, mach dir keine Sorgen, Mamma! Ciao, ciao, du bist die beste, Mamma!“ brüllte er zum Schluss in den Hörer, denn die Mamma rief von weit her an. Und wenn er schon mal am Telefon war, so rief er gleich noch im Nebenzimmer an, bei einem Kollegen, der ihm noch einen Gefallen schuldig war.
„Giovanni, ciao! Hör zu,“ quiekte er ins Telefon und bewegte dabei seine Arme, Hände und Finger so sehr, dass ihm das Telefon fast vom Ohr abfiel, „du schuldest mir doch einen Gefallen, eh? Gut, gut, natürlich bist du mein Freund, aber pass auf,“ er wedelte wieder mit beiden Händen, „mach doch mal, dass Eros noch mal seine Alte betrügt. Wenn er verliebt ist, schreibt er so herrliche Lieder. Mamma mia, du schuldest mir was!“
Danach schlenderte er kurz zu seinem Fernrohr und warf einen kurzen Blick hindurch. Alles war ruhig, sein Schützling schlief. Und auch für ihn wurde es Zeit, eine kleine Siesta einzulegen. Jetzt hatte er wahrlich genug gearbeitet.
Also legte er sich zurück auf seine Sonnenbank.

Just eine Sekunde später, die genau die 30 529ste Sekunde an diesem warmen Maitag war, erwachte sein Schützling schweißgebadet aus einem Albtraum. Weder die Dusche noch das morgendliche Jogging und anschließende Fitnesstraining konnten Zach von den aufreibenden Gedanken an seinen Albtraum befreien. Also setzte er sich in sein Auto und fuhr quer durch L.A., wo alle Frauen die gleiche Nase haben und keiner raucht, in das einzige internationale Reisebüro, das er kannte. Da niemand über ihn wachte, hätte er auf dem Weg dorthin gut und gern an die zehn Unfälle bauen können, doch die Schutzengel seiner Versicherer und Anwälte waren wachsam und verursachten so lange Staus auf den Straßen Kaliforniens, dass er erst mittags im Reisebüro ankam, zu einer Zeit freilich, als Luigis Siesta noch lange nicht beendet war. Und auf der Fahrt dorthin dachte er immer wieder über seinen Traum nach und das, was ihm persönlich als Lösung all seiner Probleme erschien.
Ich liebe sie, sagte er sich. Ich liebe sie! Ich liebe sie! Nicht so wie alle diese Mädchen aus der High School und vom College, mit denen ich einmal geschlafen habe und die ich danach nicht wieder angerufen habe, die im Traum alle hinter mir hergelaufen sind. Die liebe ich nicht. Die einzige, die ich liebe, ist Tatjana.
Natürlich raucht sie wie ein Schlot und Sport macht sie auch keinen, wer weiß, wie ich sie dazu bringen soll, in ihren Stöckelschuhen und mit der Zigarette im Mund mit mir joggen zu gehen, wenn wir erst verheiratet sind. Freilich schreibt sie auch komische Geschichten, in denen nie jemand jemanden tötet oder es auch nur eine einzige Verfolgungsjagd gibt. Aber ich liebe sie. Weil sie die einzige ist, die nie hinter mir hergerannt ist. Sie ist es und ich werde sie hier rüber holen, wo die Sonne immer scheint und die Menschen immer Recht haben.

Von all diesem ahnte Luigi nichts, bis sich drei Tage später die Tür zu seinem Büro öffnete und ein sehr langer und hagerer Mann mit spitzem Kinn und spitzer Nase, in einem grauen Trenchcoat mit grauem Hut und einem schwarzen Aktenkoffer unter dem Arm in seinem Zimmer erschien. Der Mann schien sehr nervös zu sein, denn er setzte seinen Hut immer wieder ab und auf, rieb sich die Hände, knackte mit den Fingern, kratzte sich, ließ sogar seinen Aktenkoffer fallen und murmelte:
„Ojemine, ojemine, ich dachte schon, Ihnen sei was passiert, weil sie ja nie an ihr Dingsda, na, sagen Sie schon, Telefon gehen.“
Der Kurze setzte seine Solariumbrille ab und blickte den Mageren geduldig an. Er kannte ihn schon von früheren Verhandlungen bei Zachs Sprachaufenthalt in Europa und war immer noch genervt von dem Stress, den der Magere verbreitete. Damals schon hatte er vergebens versucht, dem Mageren klar zu machen, dass eine kleine Affäre genau das Richtige für seine Mandantin wäre. Dieser war bei dem Gedanken daran aber so nervös geworden, dass er aufgegeben und mit einem Anderen verhandelt hatte.
„Oje, oje,“ sagte der Magere auch diesmal wieder, „was machen wir denn jetzt? Wie machen wir das bloß?“
Wortlos reichte der Kurze seinem Kollegen seinen Drink zur Beruhigung und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Allerdings konnte er über die Papierberge auf dem Tisch seinen Gesprächspartner nicht erkennen, also stellte er sich kurzerhand auf seinen Stuhl.
„Was ist denn mit Ihnen?“ fragte er schließlich, während der Magere nervös am Strohhalm seines Drinks herumkaute.
„Ja, wissen Sie es denn gar nicht?“
„Was wissen?“ Er brachte die Fingerspitzen der rechten Hand zusammen und wedelte diese gekonnt aus dem Handgelenk, „Mamma mia, was?!“
„Ach du liebe Güte, ach du grüne Neune, der weiß es nicht, der weiß es nicht“ murmelte der Magere immer wieder vor sich hin, während er sich den Schweiß mit einem Stofftaschentuch abwischte und mit den Beinen zappelte, wie ein Kind das auf Toilette muss.
Jetzt hielt der Zwerg es nicht mehr länger aus. Wütend sprang er vom Stuhl, schob diesen in Windeseile näher an den Stuhl des Mageren, sprang mit einem Satz zurück auf sein Podest und packte den Mageren am Schlawittchen:
„Nun spuck es endlich aus, stronzo!“ brüllte er mit seiner hohen durchdringenden Stimme aus voller Brust so, dass der Magere tatsächlich zusammenfuhr und aufhörte rumzuzappeln.
„Ihr, na wie heißt er denn, Ihr, na Sie wissen schon, Ihr Herr Zachary hat einen Flug zu uns gebucht.“
„Zu uns? Unmöglich! Wie zu uns?“ Der Zwerg sprang vom Stuhl runter und fing an auf seinem Schreibtisch herumzuwühlen, indem er jedes einzelne Blatt ansah und es anschließend in hohem Bogen durch die Luft warf, bis er endlich gefunden hatte, was er suchte.
„Zu uns kommt er erst in vierunddreißig oder sechsunddreißig Jahren, das haben wir noch nicht ausdiskutiert. Was reden Sie denn da für einen Blödsinn, Mann?!“ sein kleines Gesicht zwischen den vielen Haaren glühte vor Zorn und er war schon bereit, zurück auf den Stuhl zu springen, um seinen Kollegen wieder beim Schlawittchen zu packen, als dieser erklärte:
„Nein, nicht hierher. Zu uns nach München, zu Frau Tatjana.“
„Nein!“ schrie der Zwerg überrascht und fügte anschließend mit einem halb hämischen und halb stolzen Grinsen hinzu: „der Teufelskerl!“
„Ja, verstehen Sie denn jetzt, warum ich mir solche, na, solche, wie sagt man, Sorgen mache?“ der Magere wischte sich wieder mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und wrang das Taschentuch im Anschluss über dem vollen Papierkorb aus.
„Ha! Das hätte ich nicht erwartet, incredibile!“ grinste der Zwerg noch immer.
„Aber, ojemine, wie sag ich das bloß? Verstehen Sie denn nicht? Das ist in Tatjanas Leben so nicht vorgesehen,“ versuchte der besorgte Schutzengel seinen Kummer zu erklären. Am spitzen Ende seiner Nase hing ein Schweißtropfen, „nichts deutet auf einen solchen Besuch hin. Das ist nicht so vorgesehen, das war, wie heißt das, nicht ausgemacht, verstehen Sie mich?“
„Ach,“ der Kurze stieß dem Mageren seinen kleinen Ellenbogen in die ohnehin fleischlosen Rippen, „jetzt seien Sie doch nicht so. Gönnen Sie ihrer Tatjana ruhig mal einen Spaß! Es hatten schon viele ihren Spaß mit Zach, capito?“ er zwinkerte seinem Verhandlungspartner verschwörerisch zu.
„Nein, Sie verstehen mich nicht,“ widersprach da der Magere wieder. Man konnte ihm wirklich vieles nachsagen, aber bestimmt keinen Mangel an Standhaftigkeit.
„Erstens ist meine Mandantin noch gar nicht bereit für irgendwelche, wie würde man sagen, amourösen Geschichten. Sie hat gerade eine schlimme Trennung hinter sich gebracht und ist noch gar nicht, na, hm, offen für eine Liebesgeschichte. Und die Zeit ist dazu auch noch gar nicht gekommen. Und zweitens, wissen Sie, sie steht kurz vor dem Durchbruch! Und wenn der, na, der Durchbruch erst da ist, na dann, dann muss Frau Tatjana sich nie mehr um diese vielen, vielen, vielen amerikanischen Reisedingsda, Reisegruppen kümmern…“ so klar er auch diese lange einstudierte Erklärung geübt hatte, machte ihn der Gedanke an den bevorstehenden Durchbruch doch wieder so nervös, dass er sofort wieder anfing sich zu kratzen und nur noch stammelte: „ojemine, ojemine, was machen wir jetzt bloß?“ Dann fiel ihm aber sein Beweismaterial wieder ein und er packte ein großes, dickes Buch aus seinem Aktenkoffer, um es dem Kurzen zu zeigen.
„Sehen Sie her,“ murmelte er dabei, „hier haben wir das Telefonat, in dem, na wie heißt er, Herr Zachary erzählt, dass er am sechzehnten kommt, aber sehen Sie her, am siebzehnten, am achtzehnten: kein Zachary, der in ihrer Wohnung wohnt, keine Gastgeschenke aus Amerika, nichts, verstehen Sie jetzt? Wie haben Sie sich das eigentlich vorgestellt?“
„Kein Zachary, kein Zachary, Mamma mia, sind Sie kompliziert,“ der Kurze ruderte schon wieder mit seinen Armen in der Luft, „dann muss sie ihn halt rausschmeißen!“ Dann hielt er plötzlich inne, weil ihm anscheinend etwas eingefallen war und drehte sich zum Mageren um:
„Ach ja, certo, jetzt erinnere ich mich! Bei Zach ist eine große Niederlage geplant. Weil er doch alle diese Schlampen, die gleich mit ihm ins Bett gehüpft sind, so schlecht behandelt hat. Gut, ich hätte das anders geregelt, die wollten das doch alle! Aber ich habe hier ja nicht das sagen“ er seufzte.
„Ja, und wie machen wir das jetzt? Tatjana ist ein herzensguter Mensch, die wirft niemanden einfach so mir nichts dir nichts vor die, na, die Tür. Sie…, Sie…,“ er blieb stecken, holte tief Luft und setzte noch einmal an, „Sie haben uns doch in dieses Schlamassel gebracht!“
„Okay, va bene, lassen Sie mich denken,“ der Kurze schloss die Augen und ließ durch seinen langen Bart ein minutenlanges Brummen vernehmen. Plötzlich öffnete er die Augen wieder und streckte den rechten Zeigefinger in die Luft: „Sie muss sich in einen eifersüchtigen Mann verlieben, damit sie ihn rausschmeißt!“
„Aber, oje, o nein, wie stellen Sie sich das denn vor? Tatjana verliebt sich nicht so einfach in irgendwen, und die Zeit ist ja noch gar nicht…“
„Ach, für eine amour-foux reicht’s bei der doch immer, ich kenn doch meine Pappenheimer!“ unterbrach ihn der Kurze, „sonst mischen Sie ihr halt etwas Leidenschaft bei, passione, klar?“
„Aber nein,“ der Magere schaute beleidigt, „ich kann doch nicht einfach..“
„Klar, können Sie, nehmen Sie halt etwas ähnliches raus, ‚lügnerisch’ zum Beispiel, oder ‚launisch’, ‚logisch’, ‚labil’, da gibt’s einiges, und keiner wird’s bemerken!“
„Denken Sie?“ fragte der Magere unschlüssig, „aber eine Beziehung steht doch gar nicht an“
„Naturalmente, es muss halt einer sein, der so gar nicht zu ihr passt, damit es dann auch nichts werden kann, damit er ihrem tollen Durchbruch auch nicht im Wege stehen kann, nur einer, der sie kurz ablenkt, lassen sie mal sehen,“ er packte das Buch des Mageren und führte seinen klitzekleinen Finger die langen Seiten entlang,
„hm, schreiben, Kino, Freundinnen treffen, schreiben, hmmm…, hier! Hier ist ein junger Mann bei ihr angemeldet, zum Stricken lernen, am fünfzehnten, perfetto!“
„Aber nein, ojemine, wie stellen Sie sich das vor, der ist doch viel zu jung für sie, in den wird sie sich nie und nimmer verlieben, und er, oje..“
„Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein,“ wand der Zwerg sachlich ein, „ich habe Kontakte, Beziehungen, capito? Jemand an höchster Stelle schuldet mir noch einen colpo di fulmine, einen Blitz aus heiterem Himmel“ beruhigte der Kurze den Mageren, während er dessen Aktentasche für ihn packte und ihn unsanft zur Tür rausschob: „rufen Sie nicht an, ich melde mich“ und damit schloss er die Tür hinter dem Besuch, mixte sich einen neuen Mai Tai und legte sich zurück auf seine Sonnenbank.

Und so vergingen in beiden Welten Monate, in denen nichts passierte. Niemand rief niemanden an, niemand traf sich mit niemandem. Alles war ruhig und nichts deutete auf den bevorstehenden Blitzschlag hin, der Luigi von höchster Stelle versprochen worden war.
Natürlich, Tatjana lernte Friedrich kennen. Sie trafen sich selten, meist zufällig, und nur wenn es in die Terminkalender des Mageren und des Dicken passte. Sie trafen sich schüchtern, gar zaghaft, in dem Wissen, gar nicht füreinander geschaffen zu sein. Wenn sie sich trafen, war der Himmel heiter und klar, als Vorbereitung auf den Blitz, von dem sie noch nichts ahnten, und jeder kochte sein eigenes Süppchen.
Tatjana schrieb ihre Geschichten und war ganz ruhig. Nur wenn sie Friedrich sah, fühlte sie eine Spur von Aufregung. Friedrich wiederum rannte von Frau zur Geliebten und von Geliebter zur Frau, immer in der Gewissheit, bei derjenigen bleiben zu wollen, bei der er gerade war. Nur wenn er Tatjana sah, fand er ein wenig Ruhe.

Eines Tages, als die gelben und roten Blätter schon von den Bäumen gefallen waren und der Wind verheißungsvoll von Westen wehte, entdeckte Friedrich Tatjanas Stricknadeln und bekundete ihm selbst unerwartetes Interesse, bei ihr stricken zu lernen.

Und so ging Friedrich an diesem nebligen Montag Morgen im Oktober aus dem Haus ohne zu ahnen welch ungeheuerliche, haarsträubende Vorfälle sich bald in seinem Leben ereignen sollten.
Tatjana empfing ihn in einem leichten Hauskleid. Als sie ihm die Tür öffnete, verspürte er einen Windstoß, der den Nebel verwehte, der Himmel riss auf und färbte sich blau wie ihre Augen. Und dann plötzlich war er da.
Der Blitz schlug stärker ein als erwartet. Sie standen voreinander, starrten sich an und konnten nicht begreifen, wie man jemanden plötzlich so anders sehen konnte. Warum hatte er früher nie gemerkt, dass sie die schönste Frau auf der Welt war? Warum war ihr bloß nicht gleich klar gewesen, dass sie sich nichts anderes als einen verheirateten 20-jährigen gewünscht hatte? Sie fassten sich an den Händen ohne die Blicke voneinander zu lösen und sie führte ihn ins Haus. Gemeinsam ergriffen sie die Stricknadeln und fingen an zu stricken, als ob sie insgesamt nur zwei und nicht vier Hände hätten. Sie strickten den ganzen Tag und die ganze Nacht, sie strickten all ihre Geschichten und ihre Leben hinein, sie strickten Liebe, sie strickten Vertrauen, Freundschaft und Lust, bis sie so ineinander verstrickt waren, dass sie selbst nicht mehr wussten, wem dieses Bein, dieses Haar, dieses Herz gehörte.
Da plötzlich, ein Klingeln. Es muss einen Tag nach ihrer Verstrickung gewesen sein oder zwei. Gemeinsam hüpften sie zur Tür. Und siehe da, vor der Tür stand der Amerikaner in seinem College-T-shirt, mit frisch gebleichtem Lächeln und einem Koffer in der Hand, in den er auch sein Herz gepackt hatte, das aber neben den Muskeln eher mikrig wirkte.

Doch als die Tür vor Zachs Nase wieder zugefallen war, entwirrten sich die zwei noch lange nicht. Zachs Aufenthalt war für zwei Wochen angesetzt und in seinem Buch war nicht vorgesehen, Tatjana noch mal wiederzusehen. Also hatten der Dicke und der Magere alles drangesetzt, für diese zwei Wochen wirklich alle anderen Termine aus dem Weg zu räumen. Für den Dicken hieß das ein hartes Stück Arbeit. Er musste sogar Friedrichs Frau für immer fortschicken, aber schließlich hatte er diesen Job dem Kurzen zu verdanken anstatt lebenslang Harfe zu spielen. Der Magere hatte weniger Terminstress, dafür riefen andauernd wütende Kollegen bei ihm an und beschwerten sich, Tatjana habe durch die neue Leidenschaft, die sie plötzlich ausstrahlte, ihre Schützlinge angesteckt, und drüben herrsche ein unsagbares Chaos, weil plötzlich alle möglichen Leute sich einfach in irgendwen verliebten und lauter Beziehungen anfingen und beendeten, die gar nicht eingeplant waren. Er bekam sogar Drohbriefe und traute sich kaum noch aus seinem Büro.

Erst nachdem Zach seine Lektion gelernt hatte und wieder abgereist war, entließen die Schutzengel ihre Schützlinge aus ihrer Gewalt. Eines Morgens wachte das Liebespaar getrennt voneinander auf. Sie schliefen wohl noch nebeneinander, nur verstrickt waren sie nicht mehr. Jeder lag an seinem Platz unter seiner eigenen Strickdecke. Und kaum waren sie wach, so ging jeder seinen eigenen Dingen nach. Tatjana setzte sich an ihren Computer, um das letzte Kapitel ihrer Geschichte zu schreiben. Und Friedrich stand auf, zog sich an und ging geradewegs zu seiner Geliebten, um ihr die frohe Botschaft mitzuteilen, dass seine Frau gegangen war und er nun bereit war, ein Leben nur mit ihr zu beginnen.

Alles war gut gelaufen. Die Leben der beiden schienen von der Geschichte unberührt geblieben und Zach hatte auch seine verdiente Strafe bekommen und sein Karma dadurch etwas auf Vordermann gebracht. Luigi schlug die nächste Seite in Zachs Buch auf, als sein VIP-Klingelton ertönte.
„Ciao, Mamma!“ schrie er ins Telefon, „natürlich habe ich genug zu essen! Si! Nur weißt du, Mamma, ich möchte dich nicht traurig machen, aber…“ während er mit der einen Hand den Hörer hielt, streckte er die andere nach einer Pinzette aus, mit der er anschließend versuchte, sich eines der zahllosen Haare auf seiner Schulter auszuzupfen. Doch sobald es gezupft war, wuchs es in der nächsten Sekunde schon in gleicher Länge und Stärke auch wieder nach. Frustriert warf er die Pinzette auf seinen ungeordneten Schreibtisch zurück und stöhnte: „Mamma, ich vermisse meine Rolex und meine Armani Anzüge!“ Eine Träne kullerte seine Wange hinunter und verfing sich irgendwo in seinem Bart. Dann nickte er tapfer ins Telefon, „ja, Mamma, ich weiß ja, dass ich deswegen hier bin, ich liebe dich auch, Mamma!“
Langsam legte er den Hörer auf die Gabel und schenkte diesem noch einen langen sehnsuchtsvollen Blick, bevor er sich auf den Weg zu seiner wohlverdienten Siesta auf der Sonnenbank begab.

Der November wurde kalt und still. So still, dass jeder knirschende Schritt im Schnee, jeder Fingerschlag auf der Tastatur, jedes Telefonklingeln, jede fallende Münze überall zu hören war. Und die verlorene Stricknadel im Schnee erinnerte niemanden an die Verbindung, die nie hätte stattfinden sollen. Von den aufreibenden Ereignissen der vergangenen Monate ermüdet und von der Ruhe eingelullt, ließen es auch die Schutzengel nun ganz ruhig angehen. Der Kurze sang seine Eros Ramazotti- Lieder, der Dicke stand am Fenster und träumte von einem besseren Leben und der Magere war gar an seinem Schreibtisch eingenickt, als ihn plötzlich ein furchterregend lautes Schnarchen aus seinen Träumen riss. Erschrocken sprang er auf und klopfte gegen die Tür seines Nachbarbüros. Nichts rührte sich. Dann wieder das laute Schnarchen.
„Das geht doch nicht, das geht doch nicht,“ ärgerte sich der Magere über die mangelnde Arbeitsmoral seines ihm bisher unbekannten Kollegen, „wir haben doch gesehen, was passieren kann, wenn man nicht aufpasst, dann… dann, oh nein, ein Unglück kann geschehen, ein Unglück, ein gar schreckliches!“ Wütend fing er an, auf die Wand einzutrommeln. Schließlich nahm er sogar seinen Garderobenständer und rammte ihn in des Nachbarn Tür. Doch all das nützte nichts. Sein Nachbar schnarchte weiter.
Und unterdessen, irgendwo in New York, zwischen den hohen Wolkenkratzern und den unbegrenzten Möglichkeiten, erwachte ein anderer Amerikaner mit dem Bild von Tatjana vor Augen, schrie „ich liebe sie, ich liebe sie!“, hüpfte ins Auto und raste los, Richtung internationales Reisebüro.