„Leben und Schicksal“, Populäre Bibliothek. Und neben den westlichen Ausgaben von Pasternaks „Doktor Schiwago“ steht die neue sowjetische. Mit Vergnügen zwänge ich die neuen sowjetischen zwischen die alten Emigrantenausgaben. Brodskij, Galitsch, Lydia Tschukowskaja…
Das Jahr 1982 verbrachten wir in Princeton, in den USA. Es war das zweite Jahr unseres Lebens im Westen. Die Princeton University ist weltberühmt, ihre Bibliothek ebenfalls. In dieser Bibliothek hatte ich ein sehr eigenartiges Erlebnis. Ich war das erste Mal im russischen Lesesaal. Die Bücher der sowjetischen Autoren standen dort, wie üblich, in alphabetischer reihenfolge. Das sah etwa so aus: A – Achmatowa, Aitmatow, Alekseew, Amalrik.. B – Babel, Breschnew, Blok, Babajewskij.. S – Selwinskij, Sacharow, Serafimowitsch, Solschenizyn, Sofronow…
Etwas daran verstörte mich, war mir ausgesprochen unangenehm. Mich fröstelte. Ich war aufgebracht und wusste nicht recht, warum. Aber wieso? Wir waren es anders gewohnt: in Bibliotheken: Alekseew, Breschnew, Babajewskij. Und zu Hause –Achmatowa, Brodskij, Solschenizyn. In einer Reihe nebeneinander hatte ich diese Bücher früher nie gesehen. Ich stand da, schaute und dachte: Wie müsste es denn eigentlich sein?
Wir erhalten derzeit viele Bücher aus der Sowjetunion, und es sind viele dabei, deren Erscheinen früher einfach undenkbar gewesen wäre. Mit Genugtuung stellen wir sie neben die alten Ausgaben. Neben der im Westen erschienenen Ausgabe von Wassilij Grossmanns „Leben und Schicksal“, an deren Zustandekommen auch wir Anteil haben, steht nun die sowjetische Ausgabe: Wassilij Grossmann „Leben und Schicksal“, Populäre Bibliothek. Und neben den westlichen Ausgaben von Pasternaks „Doktor Schiwago“ steht die neue sowjetische. Mit Vergnügen zwänge ich die neuen sowjetischen zwischen die alten Emigrantenausgaben. Brodskij, Galitsch, Lydia Tschukowskaja…
Am 21. Dezember 1980 mussten wir aus Moskau ausreisen, und ich erinnere mich an den Augenblick im Flughafen, als wäre es heute. Wir stehen hinter der Sperre und auf der anderen Seite Freunde und Bekannte. Wir sind noch da, aber die Sperre trennt uns schon. Sie schauen uns nur an und sagen nichts. Einige weinen. Und wir stehen auf dieser Seite der Sperre: der Verursacher dieser Reise, ich und die kleine Olga mit einem Spielzeugköfferchen, in dem ihre allerkleinsten Puppen liegen. Wir sagen auch nichts.
Und ich weine nicht, obwohl ich genau weiß, dass ich keineswegs nach München fliege, der Hauptstadt Bayerns mit ihren berühmten Museen, Konzertsälen und Biergärten; ich fliege von Moskau ins Jenseits. Aus dem Leben ins Jenseits. Und so war es auch. Sie mögen mir nicht glauben und sagen, das sei irgendein mystischer Blödsinn, aber ich sage Ihnen, das hat mit Mystik überhaupt nichts zu tun, es ist die reinste Wahrheit. Man kann nach München fliegen, und es ist München, und man kann nach München fliegen, und es ist das Jenseits. Wenn ich jemanden jetzt beispielsweise zu mir einlade, kommt er nach München. Wenn er aber mit zwei Koffern voll Zeug, das hier niemand brauchen kann, in München ankommt und weiß, dass er nie wieder Moskau und die Gesichter seiner Verwandten und Freunde wiedersehen wird, dann ist er im Jenseits gelandet. Ist Ihnen das jemals passiert? Nicht? Dann glauben Sie mir bitte aufs Wort.
So gerieten wir ins Jenseits und lebten dort einige Jahre, bevor sich die Farben und Düfte allmählich wieder einstellten, die Grenzen zwischen dieser und jener Welt sich zu verwischen begannen und schließlich fast ganz verschwanden. Wie wir diese Jahre erlebten – das ist schon eine andere Geschichte. Aber im Dezember dieses Jahres werden zehn Jahre seit jenem Augenblick vergangen sein, da wir im Moskauer Flughafen Scheremetjewo standen und alles so ablief, wie ich es eben erzählt habe.
Und meine beste Freundin hier sagt zu mir: „Im Dezember feiern wir euer erstes Jubiläum. Zehn Jahre seid ihr hier“ Wir machen ein großes Fest!“ Und ich sehe sie an, meine beste deutsche Freundin, und sage zweifelnd: „Feiern? Nicht eher beweinen? Nun ja, beweinen wohl nicht, aber sicher nicht feiern…“ Und ich sehe, dass sie mich nicht ganz begreift. Obwohl sie klug und feinfühlig ist, und doch begreift sie es nicht. So sehen wir uns verständnislos an und finden nicht die rechten Worte. Was soll es nun werden? Ein Fest? Ein Trauertag? Und wie sollte es eigentlich sein?
Als wir Moskau verließen, war Olga erst sieben. Seit langem schon schrieb sie Gedichte und Märchen wie dieses: „Es war einmal ein Elefant. Er ging spazieren. Da traf er einen Wolf. Der Wolf sagte: Darf ich dich beißen? Der Elefant sagte“ Nein, darfst du nicht. Und ging ganz weiter“ Oder: „Ein kleiner Elefant (offensichtlich hatte sie damals die Elefantenphase) ging einmal spazieren und sah eine kleine Äffin. Ach, dachte er, wie schön und sauber sie doch ist, die möchte ich heiraten! Und dann dachte er: Wieso eigentlich eine Äffin? Ein Elefant muss doch eine Elefantin heiraten!“
Vor unserer Ausreise sagte Olga zu mir, wenn ich weinte: „Warum weinst du denn darüber, dass da alle nicht Russisch sprechen? Wir können zu Hause Russisch sprechen. Mehr brauchen wir doch nicht!“ Und unsere Freunde sagten: „Warum weinst du denn? Dafür wird Olga Sprachen lernen!“ Natürlich kann sie jetzt mehrere Sprachen. Nur, dass sie jetzt aus Deutsch denkt, träumt und dichtet. Und wie hätte es eigentlich sein sollen?
In der Zeit vor unserer Ausreise las ich „Exil“ von Lion Feuchtwanger. Nicht um mich aufs Exil vorzubereiten, es hatte sich einfach so ergeben. Ein Leben lang hatte ich eine hervorragende Bibliothek gehabt. Große Werkausgaben, Publikationen der Akademie, Kunstbände, Enzyklopädien.. jetzt mussten wir uns trennen von dem, was unser Zuhause war: von den Menschen, Dingen, Büchern. In meiner Panik griff ich nach diesem und nach jenem Buch, als wollte ich zum Abschied mir einprägen, in mich aufnehmen, was ich nicht mit mir nehmen konnte. In den zwei Bücherkisten, die mit uns reisten, fand Feuchtwanger keinen Platz. Im Roman „Exil“ läuft Sepp Trautwein, ein Münchner Musiker, der unter Hitler nach Paris emigrieren musste, ziellos durch Paris und sehnt sich nach seinem geliebten München. „Oh mein München!“ Dieser Klagelaut des Herzens, dieser Seufzer ertönt auf allen seinen Pariser Wegen:
„Er stand in schwerem Sinnen. Wie soll er seinen Weg fortsetzen, am rechten oder am linken Seine-Ufer? Plötzlich war er nicht mehr in Paris. Er atmete wieder die Luft seiner Stadt München. Die Trautweins waren eine uralte bayrische Familie, sie gehörten zu München, sie waren ein Teil davon, es war ganz unausdenkbar, dass er, Sepp Trautwein, seine Tage fern von München beschließen sollte. Er wusste mit hundertprozentiger Gewissheit, dass er einmal wieder in München sein, dass er wieder in München Musik machen, dass er in den vertrauten Sälen der Musikalischen Akademie dirigieren wird.. Ja, er wusste es, dass er an den Kais der Isar entlanggehen wird, die Frauentürme sehen, Weißwürste essen und Märzenbier trinken.. Und er sah sich in der Oper, in dem großen Haus mit dem dummen Vorhang mit den vielen L, und er sah sich zierlichen, kleinen Residenztheater…“
Und als ich selber durch Münchens Straßen und Gassen irrte, auf der Suche nach irgendeiner auch noch so geringfügigen Ähnlichkeit – ein Haus, ein Winkel – denn das konnte doch gar nicht sein, dass alles so völlig unähnlich war, als ich, von Sehnsucht gepeinigt, auf einer der einladenden Bänke am Isarufer saß, die Gegend um die geheimnisvolle Frauenkirche, um die pompöse Oper und das exquisite Cuvilliestheater erkundete, da erinnerte ich mich an diesen Klagelaut des Herzens, an diesen physischen Schmerz: „Oh, mein München!“
„Oh, mein Moskau!“
„Der Hahn kräht hier auf Deutsch“, schrieb ich in meinen ersten Briefen nach Moskau. „Der Hahn kräht auf Deutsch, der Wald ist irgendwie unlebendig, die Radieschen sind nicht knackig.“
„Die Erdbeeren haben hier überhaupt keinen Duft“, beklagte ich mich am Telefon bei einer von mir geliebten alten Schriftstellerin in Moskau auf ihre Frage, wie es uns gehe.
„Ira, was reden Sie da!“ verwies mich die Schriftstellerin streng, da die Erdbeeren in Moskau ebenfalls keinen Duft haben, aber einfach deshalb, weil es sie dort nicht gibt. Doch es war unmöglich mich umzustimmen. Ich muss zugeben, dass ich es auch heute noch für ganz ungut halte, wenn Erdbeeren nicht duften und Radieschen nicht knackig sind.
Aber jetzt haben interessanterweise die Erdbeeren Duft und die Radieschen sind knackig. Und der Wald hier ist herrlich. Und auch der Hahn kräht nicht mehr auf Deutsch. Er kräht in seiner, der Hahnensprache, so wie er krähen soll, was alle unsere Moskauer Freunde, die uns seit Beginn der Perestrojka besucht haben, bestätigen können. Diejenigen, die meine ersten Briefe nach Moskau gelesen hatten, fragen nicht, warum ich damals schrieb, der Hahn krähe auf Deutsch. Sie wissen, wie es eigentlich war.
Vieles war in unserem neuen fremden Leben im Westen fremd. Zum Beispiel die Art und weise des gesellschaftlichen Umgangs. Da ruft uns eine Bekannte an und lädt uns zum Borschtsch ein. Extra für uns will sie echt russischen Borschtsch kochen. Passt es uns am kommenden Sonntag? Nein, am Sonntag können wir nicht. Dann am übernächsten Sonntag? Da sind wir schon besetzt. Noch eine Woche später? Was soll man da machen! Ich notiere also im Kalender: Borschtsch, in drei Wochen, bei der Bekannten.
Aber in Moskau, wäre da so etwas denkbar? Hatte ich Borschtsch gekocht, war jemand von Auswärts gekommen, hatte uns einer ein interessantes Buch mitgebracht oder hatte einer von uns schlicht eine geniale Idee – wir hätten doch nicht drei Wochen gewartet! Jetzt! Sofort! Lass alles stehen und liegen, komm! Und sie kamen. Mit und ohne telefonischer Vorankündigung kamen sie, umso mehr, als unser Telefon in den letzten vier Jahren auf Anordnung der KGB stillgelegt war. Es kamen Gebetene und Ungebetene, Bekannte, Unbekannte, Sowjetbürger, Ausländer, Normale und Verrückte.
Anstrengend, sagen Sie? Natürlich ist es das. Und zum Arbeiten kommt man in einem solchen Tollhaus auch nicht besonders. Aber dafür ist es eben spontan. Das spontane russische Leben, die spontane russische Seele. Nicht so wie hier in Deutschland: beim geringsten Anlass zückt jeder den Kalender – und wie ist es bei uns an diesem Samstag und wie an jenem Sonntag? In zwei Monaten machen wir Skiurlaub in Österreich und in vier Monaten Sommerurlaub in Italien, alles ist schon gebucht, und in elf Monaten ist die goldene Hochzeit der Großeltern, da ist auch schon alles bestellt.
Wir sehen diesen Menschen an und denken: Ja, woher weißt du denn, was in elf Monaten ist? Deine Großmutter kann bis dahin tot sein, der Großvater bricht sich das Bein, oder ein Komet fällt vom Himmel, oder es kommt ein Erdbeben. Ja, kann denn ein Mensch wissen, was in elf Monaten sein wird? Aber – wir schauen zu, die Zeit vergeht, und er fährt erst in den Skiurlaub, macht dann Urlaub am Meer und schließlich feiert er auch die goldene Hochzeit seiner Großeltern. Genauso wie es in seinem Kalender steht.
Erst nach einiger zeit begriff ich: Je normaler das Leben abläuft, desto eher lässt es sich planen. Unser letztes Jahr in Moskau, mit meinen Eltern, die sich bis zur letzten Minute nicht entschließen konnten – sollten sie ohne uns in Moskau bleiben oder mit uns fahren, ohne zu wissen wohin, ohne Sprachkenntnisse und ohne Geld, unser Leben mit dem abgeschalteten Telefon und dem ewigen KGB-Auto vor dem Hauseingang ließ sich schlecht planen, umso schlechter, je länger es sich hinzog. In den schlimmsten Tagen dachte ich nur von einem Augenblick zum anderen, dachte ich nur daran, was jetzt zu tun war. Und konnte doch nichts ändern. Ich wünsche allen, die mir nahe stehen, allen meinen Landsleuten, dass auch sie wie alle normalen Menschen im Westen ihr Leben in Ruhe im Voraus planen können. Und die Spontaneität – etwas wunderbares, gewiss, doch wenn man mich vor die Wahl stellt, kann ich darauf verzichten. Sollen die Menschen ihr Leben doch im Voraus planen – so sollte es im Grunde sein.
Noch etwas zur Spontaneität. Die sogenannten Partys, Empfänge, Einladungen. In der ersten Zeit waren wir immer vollkommen niedergeschlagen und verstört. Was soll man auch davon halten, bitte, sehen Sie doch selbst: Es kommen Leute zusammen, die sich oft nicht einmal kennen. Auf einem großen Tisch stehen Platten mit Essen, die Teller stehen daneben. Geh hin, nimm dir, was du willst, sprich mit wem du willst, und wenn du nicht willst, sprich eben mit niemandem. Und die Gespräche sind irgendwie völlig unverbindlich (vor allem in den USA hat mich das frappiert): „Who are you? Very nice to meet you!“, nie spricht man über etwas wirklich Wichtiges, und niemand fordert einen zum Essen oder trinken auf.
Und bei uns? „Nein, so geht es nicht, iss, trink, und jetzt trinken wir einen auf den Erfolg unserer hoffnungslosen Sache, prost, hurra, verstehst du mich? Du verstehst mich überhaupt nicht! Meine Herren, wir haben ja noch gar nicht über Gott gesprochen!“ Irgendwer singt Okudschawa, irgendwer ist schon auf seinem Stuhl eingeschlafen, irgendwer hat irgendwen tödlich beleidigt. Und das hat uns am Anfang alles gefehlt.
Aber jetzt… Wir flogen nach Moskau. Natürlich überglücklich, unsere Freunde wiederzusehen. Wir kommen ins Haus. Himmel, was ist da alles aufgetischt, und das bei der derzeitigen Knappheit. Wir sitzen alle zusammen um einen Tisch und reden alle gleichzeitig, mit einem Wort, es ist ganz genauso wie früher, und immer das eine Thema: Sein oder Nichtsein? Und so geht es im nächsten Haus am nächsten Tag weiter, und am dritten, und am vierten, immer reden alle gleichzeitig, leidenschaftlich, glühend, hektisch, und immer das eine Thema: Sein oder Nichtsein, Sein oder Nichtsein.
Und da dachte ich, dass es vielleicht gar nicht so übel wäre, wenn jetzt jemand auf mich zukäme und mich ganz simpel fragen würde: „Who are you? Very nice to meet you!“ Und ich würde mich von dieser Anspannung erholen, die man völlig zurecht als intensives Seelenleben bezeichnet. Nur dass einem bei einem so intensiven Seelenleben überhaupt keine Kraft mehr zum Arbeiten bleibt. Die Menschen im Westen aber arbeiten viel. Und abends suchen sie keine Anspannung, im Gegenteil, sie wollen entspannen. Ich will keineswegs behaupten, dass das besser ist. Aber hier ist es nun einmal so und wir haben uns schon daran gewöhnt. Und wer weiß denn, wie es eigentlich sein müsste?
Als wir im vergangenen Frühling zum ersten Mal wieder nach Moskau reisen konnten (nach achteinhalb Jahren) waren wieder viele Menschen am Flughafen. Sehr viel mehr als bei unserer Ausreise. Viele hatten Blumen dabei, Fotoapparate, Filmkameras. Es war ein Anlass zur Freude, natürlich, zu riesengroßer Freude. Aber nicht nur zur Freude. Feiste Milizionäre in unförmigen kurzen Mänteln standen buchstäblich an jeder Ampel, früher hatte ich das irgendwie nicht bemerkt. Eine unvorstellbare Menge von Soldaten auf der Straße, waren es mehr geworden oder waren sie mir früher nur nicht aufgefallen?
Die Gesichter der Menschen – finster, sorgenvoll, müde, noch finsterer – oder hatte ich auch das wiederum nur noch nicht bemerkt? Und ein Dreck! Dreck auf den Straßen, den Häusern, den Autos. (Es war März, der dreckigste Monat des Jahres; andererseits gibt es in Deutschland überhaupt keinen dreckigen Monat.) Und die ständigen Etagenaufseherinnen in den Hotels, die Rausschmeißer in den Restaurants, wieso tun sie immer noch Dienst, es gibt doch lange nichts mehr zu bewachen. Der Blick der jungen Verkäuferin im Kleidergeschäft auf der Gorkistraße brannte vor schon fast unbegreiflichem Hass: „Verstehen Sie kein Russisch? Wir haben Inventur!“
Aber trotzdem war das nicht das Wesentliche.
Ja, sogar die russische Sprache selbst, nach der ich mich so gesehnt hatte: Sie war auf einmal allzu reichlich vorhanden, es erging einem wie mit einer Delikatesse, an der man sich nicht überfressen darf. Das Russische war ständig um einen, erstaunlicherweise, und dieses „Verstehen Sie kein Russisch?“ war schon entschieden zu viel. Und dass man alles, was gesagt wurde, bis in das kleinste Detail verstehen konnte, war auch schon irgendwie zu viel, im Umgang mit anderen, im Alltagsleben war ich jetzt Distanz gewohnt, Unausgesprochenes, sogar eine Art Geheimnis. Und davon büßte ich hier irgendetwas ein. Aber auch das war nicht das Wesentliche.
Was aber war es dann?
Die Schriftstellersiedlung an der Metro Aeroport, wo wir die letzten fünfzehn Jahre vor unserer Ausreise gewohnt hatten, erwies sich auch als dreckig, heruntergekommen und irgendwie fremd. Neben unserem früheren Eingang stand ein altes Bett. (Genau so ein Bett stand auch in dem Haus an der Majakowskaja, in dem sich die Redaktion der Zeitschrift Junost befindet, hinten unter der Treppe. Vier Millionen Abonnenten, aber niemand fühlt sich zuständig, das Bett wegzuschaffen.) Das war der Hof, nach dem ich unseren früheren Nachbarn ausgequetscht hatte, als er im Jahr nach unserer Emigration nach München kam. Das Gespräch war ungefähr so verlaufen:
Ich: „Sagen Sie, als Sie abreisten, schwebte da der Pappelflaum über dem Hof? Und dufteten die Linden?“
Er (entrüstet): „Fragt sie mich doch glatt nach Linden! Fragen Sie mich lieber, was die Kartoffeln auf dem Markt kosten, fragen Sie was Felix Kusnezow auf der letzten Schriftstellerversammlung gesagt hat, aber nein, sie löchert mich wegen Pappeln und Linden!“
Die Pappeln standen an ihrem Platz, die Nachbarn und die Concierge umringten uns mit Ach! Und Oh! Und baten uns herein. Im garten standen dieselben Bänke, auf ihnen saßen dieselben Kinderfrauen. Dieselbe Hausmeisterin mit demselben verdrießlichen Gesicht trottete über den Hof, immer noch denselben schweren Metallkratzer in den Händen, mit dem sie die verstopften Müllschlucker reinigt. Himmel, was hatten wir in all diesen Jahren erlebt! Hier dagegen.. Ich hob den kopf und sah zu unserem früheren Balkon im fünften Stock hinauf. Niemals werde ich den tag vergessen, als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, meinen Eltern zu sagen, dass wir ausreisen mussten. „Entweder in den Westen oder in den Osten, in Moskau bleiben Sie nicht.“ So war uns der Beschluss der sowjetischen Regierung durch einen Schriftstellerkollegen übermittelt worden.
Vor neun Jahren, es war wohl auch im März, hatte ich auf diesem Balkon gestanden und meinen Eltern nachgeblickt, wie sie nach dieser Eröffnung über den Hof gingen. Sie gingen langsam, vorsichtig, stützten sich gegenseitig, und ich wollte von diesem Balkon springen, ihnen nachlaufen, sie packen, aufhalten, ihnen etwas sagen. Was sagen?
Und ich wollte von diesem Balkon aus den anderen Menschen etwas zurufen, die über den Hof gingen, und wieder anderen, die auf der Straße gingen und von gar nichts wussten. Ich wollte schreien „Warum schweigt ihr alle? Tut doch irgendetwas, denn das darf doch nicht sein!“ Aber die Menschen gingen ihrer Wege und wussten von nichts. Es waren ganz gewöhnliche normale Leute, aber aus irgendeinem Grund wussten sie von überhaupt nichts. Und wenn ich ihnen plötzlich etwas zugeschrien hätte, hätten sie mich wahrscheinlich für verrückt gehalten.
Es war derselbe Hof, dasselbe Haus, es waren dieselben Bänke und Pappeln. Aber es war schon nicht mehr mein Hof und auch nicht mein Haus. Vergangenheit? Sieht so etwa die Vergangenheit aus? Und ist dies „mein Moskau“ etwas zu meiner Vergangenheit geworden? „Mein Moskau“, nach dem ich die Straßen und Gassen in München, Paris, New York abgesucht habe, mir die Augen ausschauend, jedem Geruch nachspürend, um eine nicht vorhandene Ähnlichkeit, wenigstens die kleinste Spur einer Ähnlichkeit, zu entdecken. Oh, mein München!
Oh, mein Moskau!
Und wo ist es jetzt, mein Moskau? Und wird das reale Moskau irgendwann einmal wieder meins? Ich weiß es nicht. So vieles ging verloren, und so vieles hat sich in mir selber verändert, dass mir oft scheinen will: es ist unmöglich.
Und doch.. Wenn ich jetzt im fernsehen die Demonstrationen der Moskauer sehe und die transparente, hier im deutschen Fernsehen, Transparente mit russischen Buchstaben: „Nieder mit dem KGB!“ und Tausende von Menschen skandieren höre: „Nieder mit dem KGB! Nieder mit dem KGB!“, dann weine ich wieder. Warum geschieht das jetzt erst? Und warum haben alle diese Menschen früher geschwiegen? Warum haben sie damals geschwiegen? Und wie hätte es eigentlich sein sollen?